Streunerhunde

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, 9. Dezember 2020 um 12:04 Uhr veröffentlicht.

cover_streunerhunde_DSC_6755Von Moskaus U-Bahn-Hunden bis Indiens Underdogs

Eine Rezension von Gudrun Beck, Züchterin der Fox Lions Collies

Hätten Sie gedacht, dass ca. 85 % der Hunde dieser Welt ohne Herrchen oder Frauchen leben? Frei auf Straßen und in der näheren oder weiteren Umgebung von Menschen, angewiesen auf das, was Menschen an Fressbarem liegenlassen oder bewusst zu Verfügung stellen? Seit tausenden von Jahren die wahrscheinlich natürlichste Form des Miteinander von Menschen und Hunden. Kate Kitchenham hat wissenschaftlich fundierte Beiträge aus aller Welt gesammelt und in diesem überaus lesenswerten Buch veröffentlicht.

Gerade in einer Zeit, in der es in Deutschland Mode ist,  einen Hund aus dem Ausland zu “retten” und ihn bei uns in Häusern einzusperren und am Gängelbändchen zu führen, macht es Sinn, sich das Leben und die Fähigkeiten von echten Streunern genauer anzusehen. Ohne die permantente menschliche Einschränkung zeigen freie Hunde erstaunlich viele typische Caniden-Verhaltensweisen. Es geht um  unterschiedliche Arten der Nahrungssuche, die Organisation in Rudeln bis zur kollektiven Aufzucht von Nachwuchs in Höhlen und der oft verlustreichen Revierverteidigung in z. T. mehrjährigen Kriegen unter benachbarten Rudeln, wenn die Populationsdichte hoch ist. Es geht um zeitaufwändige Beobachtungen an und Experimente mit frei lebenden Hunden in ihrer Umwelt.

Dieses Buch ist eine hervorragende Grundlage für mehr Verständnis zum Thema Hund. Es räumt auf mit widerlegten Thesen z. B. zu Dominanz oder Blickkontakt. So wird der andressierte Blickkontakt als eher sinnlos von dem unterschieden, den der Hund als Frage an den Menschen zeigt. Wird die Frage nicht beantwortet und der Blickkontakt ignoriert, führt das zu eigenständigen Entscheidungen auf der Seite des Hundes. Der Mensch darf sich nicht wundern, wenn er zunehmend mehr ignoriert wird.

Die Autoren geben detailliert und nüchtern Einblick in die Streunerwelten verschiedener Länder. Ohne zu Romantisieren wird mit dem Vorurteil aufgeräumt, den “armen” Streunern müsse auf jeden Fall ein sicheres Zuhause organisiert werden. Ehrenamtliche Tierschützer können zum Problem werden für die Streunergesellschaft. Die Autoren bedauern die zunehmende Ausrottung freier Hundepopulationen durch “zivilisierte” Gesellschaften. Diese werden uns eines Tages als Genpool fehlen, wenn unsere gezüchteten Hunde durchweg genetisch krank sind, weil die natürliche Selektion zu lange fehlte. Streunerhunde fehlen dann auch als kulturelles Element, denn sie werden von Menschen nicht nur als störend empfunden. So gehörten die U-Bahn-Hunde Moskaus Jahrzehnte  lang dazu und viele Pendler hatten selbstverständlich eine kleine Spende für sie dabei. Die Streuner von Pompeji begeistern Touristen mit regelrechten Shows, die sie für sie abziehen. In allen Kulturen gibt es auch hundefreundliche Menschen!

Auf Probleme durch Streuner und Dezimierungsprogramme wird eingegangen. Tollwut ist v. a. in Asien und Afrika noch  ein ernstes Problem, überall dort, wo der Lebensstandard gering und die Hundepopulation groß ist. Impfungen fehlen. Beißunfälle gibt es dagegen mehr in Kulturen wie der unsrigen, wo bei hohem Lebensstandard Hunden Kontakte zu anderen Hunden und Menschen oft kaum oder gar nicht ermöglicht werden.

Die Erforschung der Streunerhunde gibt Aufschluss über den Anfang der Domestikation und zeigt, was Hunde wirklich wollen und brauchen.

Viele Beobachtungen sind auf den ersten Blick verblüffend. So wird berichtet, dass ältere Hunde jüngeren als Sexualpartner vorgezogen werden. Das gilt für beide Geschlechter. Vor dem Hintergrund der unter Beweis gestellten Überlebenskunst ein evolutionsbiologisch logisches Phänomen, erhöht diese Präferenz doch die Chance für den Nachwuchs, zu überleben. Außerdem ergibt sich Dominanz aus dem Alter. Unterwürfigkeit wird selten von oben eingefordert, sondern meist von unten angeboten, aus der Einsicht heraus, dass ein junger, unsicherer Hund vom alten, erfahrenen noch viel zu lernen hat.  Aus vielen Würfen überlebt nur ein Welpe oder gar keiner bis zur eigenen Geschlechtsreife mit ca. sieben Monaten. Dabei überleben die meisten Welpen immerhin die Säugezeit, die insgesamt bis zu drei Monaten dauert, während der die Althunde gut aufpassen und die Kleinen sich noch nicht allzuweit von der schützenden Höhle weg wagen. Berichtet wird von einer Omahündin, die die Mutterhündin erfolgreich ersetzte, die am Tag nach der Geburt überfahren wurde. Fremdsäugen oder “Milchdiebstahl” bezeichnet das Absaugen von Milch durch Welpen des gleichen Rudels, die aber eine andere Mutter haben. Berichtet wird von monogam lebenden Vätern, die sich mit um die Aufzucht ihrer Welpen kümmern, aber auch von Single-Rüden, die nichts anderes im Kopf haben, als die nächste läufige Hündin zu decken.

Streunerhunde sind nicht zwangsläufig untergewichtig oder durch Mangelernährung schwach und krank. Der italienische Forscher Roberto Bonanni, dem wir eine sehr ausführliches Kapitel über das Leben von Streunern verdanken, kommt sogar zu der Aussage:

“Hundefutter, das aus primär für Menschen gedachter Fleischproduktion hergestellt wird, hat deshalb nicht nur wenig mit den Ernährungsbedürfnissen unserer Hunde gemein, es ist auch in Anbetracht des Klimawandels ökologisch höchst bedenklich” (S. 95).

Die Freiheit, jederzeit gehen zu dürfen, macht entspannte, meist friedliche Hunde aus ihnen, deren häufigste Beschäftigung so gar nicht nach “körperlicher Auslastung” aussieht: Das Beobachten.

Stefan Kirchhoff, dem wir das letzte Kapitel verdanken, in dem es um importierte Auslandshunde und die darunter befindlichen  Streuner geht, kommt zu dem Schluss:

“Sie durften vom süßen Nektar der Freiheit kosten und werden diesen Geschmack nicht vergessen. Das macht sie zu ganz besonderen Hunden und für uns extrem schwer, sie in unserer Obhut zufriedenzustellen” (S. 265).

 

Kate Kitchenham (Hrsg.)
2020, Franckh- Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG,
Stuttgart, 2020
272 Seiten Text, 117 Farbfotos von Stefan Kirchhoff, Hardcover
ISBN 978-3-440-16003-9
36,00 € (D)

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