Tiergestützte Pädagogik: Das Schulhund-Projekt

Dieser Beitrag wurde am Montag, 25. März 2013 um 13:34 Uhr veröffentlicht.

Einsatz von Hunden in der Schule -  Erfahrunbgsbericht einer Lehrerin mit einer Amerikanischen Collie-Hündin.

Seit über 1,5 Jahren nehme ich meine Hündin Mieke mit zur Schule. Ein schlau klingendes Konzept habe ich im Vorfeld geschrieben, Fachliteratur gesucht und gewälzt, Studien gelesen, Zeitun

gsartikel ausgeschnitten, Fernsehberichte aufgezeichnet. Klingt alles toll, tiergestützte Pädagogik. Aber was hat es gebracht?

Meine Klasse ist eine besondere Klasse, denn hier werden Kinder mit einem festgestellten Förderbedarf Lernen zusammen mit Hauptschülern unterrichtet. Zur Zeit besuchen 4 Förderschüler die Klasse, ein Kind hat es bereits geschafft seine Lernschwierigkeiten aufzuholen und bekommt nun auch ein normales Hauptschulzeugnis.

Die knapp 20 Kinder wurden zusammen mit einem flauschigen kleinen Welpen eingeschult. Miteinander sind Kinder und Hund gewachsen, haben viel gelernt. Auch voneinander. Die Hündin ist inzwischen erwachsen, bei den Menschenkindern dauert dies naturgemäß noch an. Mieke ist in der Schule groß geworden, ist an die Unruhe und das Chaos, das entsteht, wenn 250 Menschen zusammen arbeiten, gewöhnt. Sie hält das Lehrerzimmer für eine Spielwiese und die Eingangshalle für ihr zweites Wohnzimmer. Im Klassenraum haut sie sich meist in ihr Körbchen, oder sie schläft unter einem der Tische. Erst einmal wirkt das nicht besonders aufregend. Besonders wird ein solches Projekt dann, wenn man sich die Kinder genau ansieht, um ihre Schwierigkeiten und Hintergründe weiß und die Interaktionen mit dem Schulhund beobachtet. Ich möchte hier von einigen Kindern aus meiner Klasse berichten.

Da wäre zum Beispiel Schüler 1. Dieser hat eine Wahrnehmungsstörung und eine leichte Entwicklungsverzögerung. Obwohl schon 12 Jahre alt, spielte S1 in der 5. Klasse in den Pausen noch mit Stöcken, verlor sich in Phantasiewelten über Ritter und Raumschiffe und war nach Pausenende manchmal so aufgeregt und hibbelig, dass an Unterricht nicht zu denken war. Selbstberuhigung ist bei Mensch und Tier eine Fähigkeit, die nicht von allein vorhanden ist, sondern gelernt und geübt werden muss. Der Junge durfte sich nach den Pausen oft mit dem Hund zusammen auf den Teppich legen, dort ein bisschen herumkugeln, kuscheln und beim Streicheln herunterkommen. Nach einigen Minuten habe ich ihn gefragt: „Na, XY, kannst du jetzt wieder mitmachen?“ und er antwortete meist: „Ja, jetzt geht es wieder“, setzte sich auf seinen Platz und konnte wieder arbeiten.

Ein weiches Hundefell zu streicheln hat auf viele Kinder eine sehr beruhigende Wirkung. Überhaupt wird der Berührungssinn in der Schule ja viel zu wenig benutzt. Wie auch? Schulkinder verlassen sich vor allem auf Augen und Ohren. Moderner Unterricht soll zwar alle Sinne mal ansprechen, Bewegungen zulassen und Material auch zum Anfassen bereithalten, aber sein wir mal ehrlich: das hat im Alltagsunterricht viel zu wenig Platz. So ein Hundefell anzufassen ist eine sinnliche Erfahrung, die nicht viel Zeit kostet, oft verfügbar ist und auch mal schnell im Vorbeigehen funktioniert. Hundehalter wissen aus eigener Erfahrung: ein bisschen streicheln lädt den Akku wieder auf, macht zufrieden, lässt einen wieder ins Gleichgewicht kommen.

Schüler 1 kann sich heute viel besser regulieren. Er muss nicht mehr zum Hund auf den Teppich, aber nach wie vor liebt er Mieke heiß und innig. Streicheln gehört nach wie vor dazu.

Dann ist da Schülerin 2. Das Mädchen hat es nicht leicht. Es litt im Grundschulalter an einem Hirntumor, erduldete Krankenhausaufenthalte, Chemotherapien, Bestrahlungen, Operationen und dutzende von quälenden Untersuchungen. Schülerin 2 erträgt dies mit erstaunlicher Fassung, die man einer 13Jährigen gar nicht zutraut. Das Mädchen hat eine Lernbehinderung, dies ist zum Teil ein Werk des Tumors. Bestimmte Hirnareale funktionieren nicht so, wie sie es sollten. S 2 bringt Mieke immer Hundekekse mit. Mieke liegt gern unter ihrem Tisch, da es gut sein kann, dass während des Unterrichts mal ein Keks herunter wandert. Das Mädchen lässt Mieke Tricks machen und freut sich wie ein Schneekönig, wenn es klappt. Sie kümmert sich besonders gründlich, wenn sie den „Hundedienst“ übernimmt. Sie füllt immer gewissenhaft den Wassernapf nach. Diese Verantwortung zu tragen und der Aufgabe gerecht zu werden ist ein Erfolgserlebnis, das zwar in der Schule passiert, aber nichts mit schulrelevanten Leistungen zu tun hat. Dies ist für alle Kinder eine wichtige Erfahrung, und für ein Kind mit Lernbehinderung natürlich besonders. Erfahrungen dieser Art tun dem Selbstbewusstsein gut und machen stark.

Schüler 3 ist ein weiterer Sonderfall. Er hat ein enormes Problem mit seinem Selbstbewusstsein. Dazu trägt auch bei, dass er eine leichte Hörschädigung hat. Er mag nicht äußern, wenn er etwas nicht verstanden hat, denn er will nicht auffallen. Aus dem selben Grund weigert er sich, seine Hörgeräte zu tragen. Logischerweise ist das nicht sehr förderlich für seine schulischen Leistungen, und schlechte Noten schmälern wieder erneut das ohnehin angekratzte Selbstbewusstsein. Dieser Junge kann die Schule nicht leiden, er ist frustriert und benimmt sich oft daneben, weil er seinen Frust irgendwo lassen muss. Da kommt die blöde Klassenlehrerin sehr gelegen, die schon wieder etwas von ihm will, ihn schon wieder nervt, weil er nicht anfängt zu arbeiten, schon wieder verlangt, dass er aufpasst etc. S 3 hat bereits den sehr frustrierenden Abstieg von der Real- zur Hauptschule hinter sich, er kennt Misserfolge und gibt zumeist den Lehrern die Schuld daran. Wir haben ein kompliziertes Verhältnis zueinander. Es gibt Momente, in denen ich nicht mehr an ihn herankomme. Dann schicke ich Mieke. Sie darf immer zu ihm, sie wird immer gestreichelt, obwohl doch gerade alles so schrecklich ist. Bei diesem Jungen achte ich darauf, dass ich auch während des Unterrichts, quasi im Vorbeigehen, regelmäßig eine Interaktion zwischen ihm und dem Hund herstelle. Es ist sichtbar, wie gut ihm das tut. Mieke interessiert es ja auch nicht, dass er sich ein wenig seltsam verhält, nicht gut hören kann, nuschelt und mit dem sinnentnehmenden Lesen ein Problem hat. Durch sie findet er leichter wieder zurück, beruhigt sich wieder. Oft reicht das aus, dass er wieder den Stift in die Hand nimmt und es wenigstens versucht.

Schülerin 4 ist in der Schule weitestgehend unauffällig und recht leistungsstark. Das Mädchen kommt aus einer kinderreichen Familie, in der ein strenger Vater das Regiment führt. Mieke und dieses Mädchen lieben einander sehr. Mieke begrüßt S 4 immer sehr ausgiebig und liebevoll, oft geht das Mädchen dabei in die Hocke. Mieke stellt ihre Vorderpfoten auf die Schultern der Schülerin, es sieht ein bisschen wie Umarmen aus. Mieke beknabbert hingebungsvoll den Pulloverkragen des Mädchens und wedelt ausladend mit dem Schwanz. Eine Begrüßung wie im Märchen, für ein Kind, dem sonst nichts allein gehört.

Schüler 5 kam Anfang des Schuljahres aus Osteuropa nach Deutschland und geht seitdem in unsere Klasse. Er hat nach wie vor große Schwierigkeiten mit der Sprache, will am liebsten gar kein Deutsch sprechen. Er kann wegen seiner Verständnisschwierigkeiten an vielen Dingen im normalen Unterricht nicht mitarbeiten, bekommt immer anderes Arbeitsmaterial, was er dann doof findet. Er verweigert sich häufig komplett, will nicht einmal etwas Einfaches machen wie ausmalen oder ähnliche bei anderen Kindern häufig beliebte Tätigkeiten. Man merkt ihm seinen Unmut oft an, obwohl er sich nicht sprachlich äußert. Mieke schafft es allerdings, ihm ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Sie findet ihn sympathisch, egal welche Sprache er spricht und welche nicht. Nun kann Mieke ja aber nur Deutsch. Wenn man möchte, dass sie einen Trick macht, muss man das Kommando auf Deutsch geben und das Ergebnis wird auch direkt geprüft, denn Mieke kann ja nur ausführen, was sie verstanden hat. Der Junge muss sich also anstrengen, die Wörter zu behalten und richtig auszusprechen. In diesen Situationen findet er Deutsch dann doch nicht so furchtbar.

Ich habe drei Kinder (zwei Mädchen und einen Jungen), die sehr schüchtern und verschlossen sind. Die drei erzählen von allein nicht so viel, sind still, erzählen auch nicht von allein, wenn sie Streit hatten oder jemand sie geärgert hat. So etwas zu erzählen fällt schwer, wenn man ohnehin nicht so mutig ist und man als „Petze“ schlecht dasteht. Aber manchmal müssen Dinge besprochen und zugegeben werden, auch Sachen, die peinlich sind. Bei solchen Gelegenheiten ist immer der Hund dabei, denn der lenkt von der eigentlichen, unangenehmen Gesprächssituation ab, so dass man sie etwas besser aushalten kann. Die Kinder können den Hund ansehen, ihn streicheln und dabei erzählen. Wenn mal ein Kind ein paar Tränen vergießt, nimmt Mieke das durchaus wahr. Sie spürt, wenn jemand sehr traurig ist und versucht auf ihre Art, etwas dagegen zu tun. Oft springt sie die Kinder an oder klettert auf ihren Schoß. Meist leckt sie die Gesichter ab, man sieht ihr an, dass ihr dieses menschliche Verhalten gar nicht behagt und sie es gern ändern möchte.

Schüler 6 ist stark verhaltensauffällig, lebt in einem Heim und hat in seinem Leben oft die Erfahrung gemacht, dass Erwachsene ihn ablehnen. Schließlich tun dies sogar seine eigenen Eltern. Wegen seines bollerigen Auftretens, seiner Unfähigkeit still zu sitzen und seiner Unangepasstheit eckt er in der Schule oft an. Er verhält sich häufig rücksichtslos und stört oft den Unterricht, vor allem bei Fachlehrern, die er nicht gut kennt. Mieke stört sich nicht an seinem schwierigen Verhalten. Sie findet ihn witzig, er ist in ihren Augen nicht unbedingt fürs Streicheln da, aber fürs Spielen. Als Mieke noch klein war, kugelten Kind und Hund regelmäßig im Klassenzimmer umher. Der kleine Hund hopste auf dem Kind herum, und erstaunlicherweise fiel es dem sonst eher groben Jungen nicht schwer, mit dem Welpen vorsichtig und rücksichtsvoll umzugehen. Auch heute springt Mieke ihm manchmal noch auf den Schoß, wenn sie gute Laune hat. Die beiden albern nach wie vor noch herum, allerdings nicht mehr so häufig, was wohl auf Miekes Alter zurückzuführen ist. Ich denke, dass dieser Junge sehr vom Schulhundprojekt profitiert, da ihm der Hund völlig unvoreingenommen Zuneigung entgegenbringt, und er der Schule so wenigstens eine gute Sache abgewinnen kann.

Ganz allgemein lässt sich sagen: Ein Hund in der Klasse wirkt wie ein Blitzableiter. Besonders dann, wenn „negative“ Gefühle wie Frust, Ärger, Traurigkeit und Enttäuschung bei Kindern spürbar sind, wirkt Miekes bloße Anwesenheit ausgleichend. Sie schafft es, die allgemeine Stimmung im Rahmen zu halten, nimmt einer Situation die Anspannung. Einfach so. Kein Kind kann einem weichen Hundefell widerstehen, einem wedelnden Hund böse sein. Mieke hat, wie auch viele normale Familienhunde, das Bedürfnis nach Harmonie im Rudel. Wenn es Stress gibt, versucht sie ihr Bestes, um die Situation zu entschärfen. Wenn es ihr zu bunt wird, stellt sie sich an die Tür und bellt. Für die Kinder das Signal: Wir sind zu weit gegangen, Mieke hat keine Lust mehr.

Insgesamt profitiert die gesamte Klasse von der tiergestützten Pädagogik. Alle Kinder müssen sich rücksichtsvoller verhalten, wenn ein Hund mit ihnen das Klassenzimmer teilt. Der vielbeschriebene Effekt, durch den Hund sei die Klasse leiser, ist zwar zu beobachten, nutzt sich jedoch mit der Zeit ab. Mir persönlich geht es allerdings gar nicht so sehr um die Lautstärke, das Ganze hat auch viele langfristige Erfolge. So ein Hund liegt oder steht ja häufig einfach im Weg herum, da er dabei sein möchte und nichts verpassen will. Wenn Kinder durch den Raum laufen, müssen sie alles im Blick haben, eben auch das, was sich auf Kniehöhe durch den Raum bewegt oder auf dem Boden liegt. Eine Schülerin habe ich, die sehr ungeschickt ist, sich auch selbst oft wehtut, häufig fällt, weil sie unaufmerksam ist etc. Der Volksmund würde sagen: das Mädchen ist trampelig. Zweimal ist es vorgekommen, dass sie nicht geschaut hat, wo sie hinging, und den Hund umrannte, der sich laut quiekend beschwerte. Das Mädchen mag Mieke sehr gern, es tat ihm unheimlich Leid, dass es Mieke wehgetan hatte. Die Schülerin achtet viel besser auf sich, wenn Mieke da ist, behält ihre Umgebung im Blick und schaut hin, wo sie geht. Ein solcher Zwischenfall ist schon lange nicht mehr vorgekommen.

Was bei Kritikern häufig als Gegenargument genannt wird ist die Vermutung, ein Hund in der Klasse würde die Schüler zu sehr ablenken und den Unterricht störend unterbrechen. Dazu kann ich aus der Erfahrung nun Folgendes berichten: Klar gibt es Unterbrechungen. Aber weder ich noch die Kinder empfinden dies als störend. Es sind überwiegend kurze Augenblicke, dann widmen sich die Kinder wieder ihrer Arbeit. Zum Teil sind die Unterbrechungen sehr lustig, und wir lachen einfach mal herzlich miteinander über den Hund, der mit seinem Teddy im Maul in der Klasse steht und spielen will oder sich geräuschvoll seufzend im Korb niederlässt. Es ist sogar wichtig, dass die Kinder den Hund beachten, seine Bedürfnisse wahrnehmen und deuten können. „Guck mal, was Mieke macht! Die will bestimmt …“ sind Aussagen meiner Schüler, über die ich mich freue. Sie zeigen, dass der oberste Zweck des Projekts, nämlich die Schüler zu mehr Empathie und Einfühlungsvermögen zu erziehen, gelingt. Außerdem sorgt ein Hund ganz nebenbei für gute Laune. Und welcher Lehrer würde denn verhindern wollen, dass die Schüler mit guter Laune im Klassenzimmer sitzen? Eine positive Lernumgebung und eine positive Grundeinstellung wirken immens motivierend auf ein Kind und verbessern die Leistungsbereitschaft.

Viele Eltern, sowohl aus meiner Klasse als auch aus der Parallelklasse, sind mittlerweile echte Fans des Schulhundprojektes. Ich erhalte ausschließlich positive Rückmeldungen der Eltern, insbesondere von Eltern der „speziellen“ Kinder. Die Eltern sehen, wie gern ihre Kinder in diese Klasse gehen, wie sehr sie sich mit ihr identifizieren, was sie zu Hause erzählen. Von Eltern der Parallelklasse, in der ich ebenfalls unterrichte, habe ich Bitten erhalten, Mieke dort ebenfalls im Unterricht einzusetzen. Leider lässt sich das aus zeitlichen bzw. unterrichtsorganisatorischen Gründen nicht oft realisieren. Aber natürlich treffen die Schüler der Parallelklasse Mieke auch auf dem Flur und in der Pause. Klar hat sie dort, wie auch in allen anderen Klassen, jede Menge Freunde.

Nach wie vor bin ich vom Schulhundprojekt überzeugt. Die Erfolge, die wir verzeichnen können, sprechen für sich. Natürlich darf man nicht vergessen, dass diese Erfolge nicht von allein eintreten. Sowohl mit dem Hund als auch mit der Klasse muss intensiv gearbeitet werden, damit die Zusammenarbeit klappt. Ich kann jedoch nur betonen, wie sehr sich die viele Arbeit immer wieder bezahlt macht. Mit diesem Bericht möchte ich auch andere Lehrer und Schulleitungen ermutigen, Projekte dieser Art zu initiieren bzw. als Schulleitungen zuzulassen. Viel zu oft werden engagierten Lehrern Steine in den Weg gelegt, es werden völlig überzogene Anforderungen gestellt und unnötige Reglementierungen auferlegt. Seit 2007 gibt es in Niedersachsen das Prinzip der Eigenverantwortlichen Schule, warum nutzen wir dieses nicht auch mal für ungewöhnliche Projekte wie eben die tiergestützte Pädagogik? Liebe Kollegen, traut Euch!

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