Das Leitwolf Spiel

Dieser Beitrag wurde am Sonntag, 25. Mai 2014 um 10:34 Uhr veröffentlicht.

Eine Rezension von Gudrun Beck, Züchterin der Fox Lions Collies

Gleich die ersten Seiten erinnerten mich an ein Spiel mit meiner ersten Colliehündin Gladess Mitte der 80er Jahre. Eine Hündin, die 15-einhalb Jahre meines Lebens ganz deutlich bereicherte.

Wir spielten um ein Stöckchen, also nicht korrektes Apportieren im Sinne irgendeiner Prüfungsordnung, bestehend aus “Bring!”, “Sitz!” und “Aus!”, sondern mehr so ein “Hasch mich! Wer hat das Stöckchen?”-Spiel mit umeinander laufen und sich das Stöckchen gegenseitig abjagen, mit Tauzieh-Einlagen und höchstens kurzen Wurfstrecken. Als meine Süße mit dem “erbeuteten” Stöckchen immer schneller und übermütiger um mich herumsauste und ich kaum noch die Gelegenheit bekam, ihr das Stöckchen abzunehmen, griff ich sie plötzlich im Vorbeidüsen am Fell auf der Kruppe, oberhalb der Schwanzwurzel, obwohl mir das im gleichen Moment schon gemein vorkam. So festgehalten, konnte ich ihr das Stöckchen abnehmen (“Ätsch!”). In der nächsten Runde – “MEIN Stöckchen, ha!” – fühlte ich plötzlich schmerzhaft ihre Zähne in meinem Allerwertesten. Was war passiert? Meine liebe Hündin, die noch nie gebissen hat, tat was? Nun ja, sie hat nach der gerade von mir neu eingeführten Regel gespielt. Mehr nicht. Selber schuld. Ich sagte “Au!” und “Nein!” und brauchte einen Moment Pause. Danach spielten wir ohne diese neue Regel weiter. Auf Seite 88 dieses Buches kommt das Spiel um ein Spielzeug in genau dieser Weise vor – ohne diese dumme Erweiterung der Regeln.

Die meisten modernen Hundebesitzer wünschen sich eine tolle, partnerschaftliche Beziehung zu ihrem Hund. Viele meinen, eine solche zu haben. Doch dann sowas: Wild taucht auf – der Hund ist weg. Ein anderer Hund taucht auf – der Hund rennt hin. Ohne zu fragen, ohne auf den Rückruf zu achten. Plötzlich ist Herrchen oder Frauchen egal. Wie gut ist die Beziehung wirklich? Warum ist sie nicht so gut, dass der Hund trotz aller Ablenkung am liebsten in der Nähe seines menschlichen Partners bleibt? “Zu triebig” oder “dominant”, heißt es dann, oder: “Der will doch nur spielen!” – Genau!

Denn oft liegt es eben daran: Der Mensch hat es nicht verstanden, sich zu einem “Leitwolf” im Sinne des Hundes zu machen, zu einem aus seiner Sicht vertrauenswürdigen, verständnisvollen Partner, von dem in jedem Moment Action vom allerfeinsten ausgehen kann, Action, die es an nichts vermissen lässt: ein wirklich hundgerechtes Spiel, was beiden Seiten so richtig Spaß macht. Ein Spiel, das weder ein Spielzeug, noch einen Clicker (Knackfrosch) erfordert, sondern nur den Hund und seine Bezugsperson selbst. Ganz so, wie es beim Spiel zwischen zwei gut sozialisierten Hunden ja auch wäre. (Übrigens das häufigste Argument für die Anschaffung eines Zweithundes: Weil er dann einen zum Spielen hat. Gefährliche Entwicklung!)

So spielen können wir nicht? Doch! Mirko Tomasini zeigt in diesem hervorragenden, leicht lesbaren Praxis-Ratgeber, wie es geht. Das Kind bzw. den Hund in sich selbst wecken, wie Kinder oder Hunde in Rollen schlüpfen und mal zum Jäger, mal zur Beute, mal zum Stärkeren und mal zum Schwächeren werden. Den eigenen Körper einsetzen, Nähe zulassen, voneinander lernen, sich allein über die Körpersprache, also Haltung und Bewegung, gegenseitig zu verstehen und zu vertrauen. Rund zehn Jahre nach Ekard Linds “Richtig spielen mit Hunden” (Kosmos 2004) widmet Tomasini genau diesem Thema noch einmal und zu recht ein ganzes Buch. “Beziehung durch Spiel” ist die Überschrift der Zusammenfassung auf der Rückseite des Buches. Anders als Linds teilweise recht theoretisches Buch ist Tomasinis neues Werk von jedem Hundefreund leicht zu lesen und einfach zu verstehen. Spiel muss ja auch gar nicht kompliziert sein.

Es liegt in der Natur von Menschen und Hunden, dass wir im Spiel schon als kleine Kinder oder Welpen Kommunikation, die eigenen Möglichkeiten, aber auch Grenzen (Beißhemmung!) und Vertrauen lernen. Hunde bleiben, mehr noch als nicht domestizierte Wölfe, bis ins hohe Alter verspielt. Das gemeinsame Spiel ist die wichtigste Grundlage für ein wirklich harmonisches Miteinander und eine richtig gute Zeit mit dem eigenen Hund. Eine richtig gute Beziehung macht viele Erziehungsschritte überflüssig oder zumindest sehr viel einfacher.

Die Überschrift “Das Leitwolf Spiel” weckt bei erfahrenen Hundefreunden, die schon viele Bücher gelesen und Trainingsansätze verglichen haben, zunächst eine falsche Befürchtung:

Geht es Tomasini darum, den Hund im Spiel zu dominieren, sich selbst als “Leitwolf” und der ewig Stärkere zu beweisen? – Nein! Im Gegenteil: Er ermutigt dazu, gerade den Hund immer wieder gewinnen zu lassen. Von “Selbsthandicaps” schreibt er, wenn es darum geht, den Hund, den man gerade greifen könnte, bewusst entwischen zu lassen, damit seine Freude am Spiel erhalten bleibt und Selbstbewusstsein bei ihm aufgebaut wird. Kleine Kinder, die man beim Mensch-ärgere-dich-nicht immer nur besiegt, verlieren ja auch schnell die Lust auf dieses Spiel. Aus mangelndem Selbstbewusstsein resultieren bei Hunden viele ernste Verhaltensstörungen bis hin zum Angstbeißen. Häufiger Rollentausch ist ein wichtiges Merkmal eines jeden Spiels unter Hunden. Das Sich-Herablassen “auf Augenhöhe” – buchstäblich! – schafft die Basis für einen Führungsanspruch als “Leitwolf” in anderen Situationen, weil dann auf beiden Seiten Verständnis und Vertrauen da ist, wenn man es braucht. Er ermutigt auch dazu, Aggression im Spiel zuzulassen, soweit sie durch die Beißhemmung ungefährlich bleibt, oder aktiv durch spontanes Zwicken oder Wegschubsen eine solche aufzubauen.

Dabei gibt Tomasini nicht viele Regeln vor, denn, so betont er immer wieder, freies Spiel kommt weitgehend ohne aus. Er geht auch auf Konflikte und Missverständnisse ein, denn, nicht alles, was nach Spiel aussieht, ist für den Hund eins. Er zeigt Ansätze, wie man scheinbar nicht spielfreudige Hunde motiviert und aus der Reserve lockt. Ein wirklich gutes Buch, das ich mit viel Spannung gelesen habe und allen empfehle, die zu einer echten Beziehung zu ihrem Hund finden möchten.

Das Leitwolf Spiel
Mirko Tomasini
Eugen Ulmer KG
Stuttgart, 2014
100 Seiten
ISBN 978-3-8001-7995-4
EUR 16,90 (D) oder 17,40 (A)

Folgende Bilder: Unvergessene Spiel- und Lebensgefährtin Gladess

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